Kartoffeln

 

Dies soll weder eine Einleitung für ein „Kochbuch für ARME“ werden, noch ein Plädoyer für „5 am Tag“.

Länger als ein halbes Jahr – im Winter 1954 und bis zum Spätsommer 1955, bildeten bei uns täglich Kartoffeln die Hauptmahlzeit.

Zur „Kartoffelzeit“ bekam meine Mutter für sich und zwei Kinder 134,- DM Fürsorge im Monat, die Miete betrug 64,- DM, also blieben 70 DM zum Leben für drei Personen. Wir wohnten in einem Sozialbau in einer 2-Zimmerwohnung auf dem Dorf. Ob mir Kartoffeln pur, oder als vom Berliner heiß geliebte Salzkartoffeln, jemals geschmeckt haben, das weiß ich nicht mehr. Aber nach 200 Tagen fast täglichem Kartoffelverzehr war ich froh, als meine Mutter Arbeit in der Fabrik fand und Geld verdiente. In meinem heutigen Haushalt gibt es so gut wie nie Kartoffeln.

Die Variationsbreite der Zubereitung von Kartoffeln ist irgendwann erschöpft. Es gab sie in gekochtem, geriebenen,  zu Brei gestampften oder gebratenen Zustand. Als Klöße konnten sie aus rohen oder gekochten oder aus beiden Sorten bestehen, letztere wurden Halbseidene genannt. Reiberdatschi, die auch Backers oder Puffer heißen, wurden aus rohen, geriebenen Kartoffeln zubereitet; das Ganze aus gekochten Kartoffeln hieß „Zemte“. Wurde dieser Zemteteig in kleinen Teilen gebraten, hieß das Gericht „Finger“. Bereichert wurden diese Hauptgerichte durch geschenktes, geklemmtes oder selbst gesammeltes Obst. So gab es zur Abwechslung Zwetschgenknödel oder Apfelküchle. Hauptbestandteil beider Gerichte waren freilich die Kartoffeln. Normalerweise werden Zwetschgenknödel als Mehlklöße gekocht, aber meine Mutter vertraute auf das Sättigende der Kartoffeln. Ganz normale Bratkartoffeln wurden zur Delikatesse, wenn wir Pilze gefunden hatten. Besuchte uns eine alte Freundin meiner Mutter und brachte vom Bauerhof selbst gemachte Butter mit, gab es zur Freude meines Bruders und zu meinem Leidwesen Kartoffelbrei mit Buttersee. Zu dieser Zeit habe ich auch zum ersten Mal Spargelsuppe gegessen. Meine Mutter sagte allen Nachbarn Bescheid, sie mögen ihre Spargelschalen nicht wegwerfen, wenn sie Spargel aßen. Wir zauberten aus den Schalen eine köstliche Suppe. Die anderen hatten das Edelgemüse und wir den Geschmack davon. Wenn es Samstags keinen Kartoffelsalat gab, wurde Schokoladensuppe gekocht, das war ein gestreckter Pudding, darauf schwammen Klößchen aus steif geschlagenem Eiweiß. Am Sonntag wurden häufig Pellkartoffeln aufgetischt und zur Feier des Tages bekamen wir Kinder eine Scheibe Leberwurst dazu.

Im Frühjahr waren die Varianten erträglicher, weil eine alte Frau auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Garten hatte, mit dessen Erträgen sie ihre schmale Witwenrente aufbesserte. Ich wurde mit einem „Zehnerle“ losgeschickt und kam mit einer gefüllten Schürze zurück – voll mit einem großen oder zwei kleinen Salatköpfen, Schnittlauch, Petersilie und Borretsch; vorher durfte ich noch von den Erdbeeren naschen – das war das Größte. Je fortgeschrittener das Jahr war, gab es gelbe Rüben (Möhren), rote Rüben (Beete), Gurken, Rettiche und Zwiebeln – immer zehn Pfennige für eine volle Kinderschürze.

Im Dorf gab es Streuobstwiesen, im Wald und an den Wiesenrändern wuchsen Beeren und Kräuter. Durch die Kenntnis von Pflanzen lies sich so manches Gewürz finden, das den Speisezettel pikanter machte, oder so mancher Tee wurde Endprodukt eines Spazierganges.

Es gab für uns als Kinder aber noch andere Vorteile aus der Existenz der Kartoffeln. Taschengeld wurde damals sehr klein geschrieben und das sonntägliche Kinderkino kostete 50 Pfennig Eintritt. Dieser Preis entsprach einer vollen Konservenbüchse Kartoffelkäfer. Wenn man geschickt war, hatte man in einer Stunde eine Büchse voll Käfer zusammen gelesen und für den Salär gab es zwei Stunden Vergnügen!

Verhartzte in der Stadt leben heute mitunter noch schlechter, als wir damals. Denn sie haben nur  wenige  Möglichkeiten und oft auch nicht die Kenntnis, ihre Ernährung mit gesammelten Früchten, Gemüsen oder Kräutern aufzupeppen. Ich habe eine Vorliebe für Nudeln. Mit meinen Gewürzmischungen und selber gemachten Pesti lassen sich Nudeln kulinarisch aufwerten und werden zu einem gesunden Basisgericht. Allerdings blicke ich schon manchmal sehnsüchtig in die Auslage des Neulandfleischers, übe Verzicht und darf nicht daran denken, dass das mein restliches Leben so bleiben wird.

 Eva Willig, Berlin, 64 Jahre

 Veröffentlicht in:

ARMUT

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eingereicht im Rahmen einer Ausschreibung

illustriert von Rainer Wieczorek

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